Der britische Biologe Dave Goulson, eigentlich bekannt als Hummelforscher, behauptete in seinem 2019 erschienenen Buch „Wildlife Gardening – Die Kunst, im eigenen Garten die Welt zu retten“, der Regenwurm sei das wichtigste Lebewesen auf der Erde. Ein anderer britischer Wissenschaftler, Charles Darwin, eigentlich ein Begriff als „Erfinder“ der Evolution, schrieb nach mehr als vierzigjähriger Beschäftigung mit dem Leben der Regenwürmer sein Alterswerk „Die Bildung der Ackererde durch die Thätigkeit der Würmer“ (so der Titel der ersten deutschsprachigen Übersetzung von 1882) und lobte die bodenschaffende Tätigkeit der kleinen Tiere. „… es ist zweifelhaft, ob es noch andere Tiere gibt, die in der Geschichte der Erde eine so große Rolle gespielt haben, wie diese niedrig organisierten Geschöpfe. Der Pflug ist eine der ältesten und wichtigsten Erfindungen. Aber lange bevor es den Pflug gegeben hat, ist das Land bereits regelmäßig gepflügt worden, und zwar von den Erdwürmern, und so wird es auch heute noch von ihnen gepflügt.“ Wieder andere Autoren verbinden ein mögliches Aussterben der Würmer mit dem Kollabieren menschlicher Gesellschaften. Ob aber das Schaffen der Regenwürmer wirklich überall ein Segen ist?
Der deutsche Name „Regen“-Wurm ist eigentlich irreführend, im 16. Jahrhundert sprach man vom regen Wurme und traf damit sein Verhalten wesentlich besser. Regenwürmer sind bei den ihnen genehmen Temperaturen, für den Tauwurm sind das 10 bis 14 Grad, der Mistwurm mag es etwas wärmer, überaus aktiv, leben aber überwiegend mehr oder weniger tief in der Erde. Die englische Bezeichnung „earthworm“ oder die französische „Ver de Terre“ für „Erdwurm“ trifft es da besser.
Regenwürmer sind einfache Tiere, eigentlich nur ein Muskelschlauch, auf der ganzen Länge vom Mund zum After von einem Darm durchzogen. Den Luxus einer Lunge, von Augen oder Ohren leisten sie sich nicht. Vielmehr atmen sie einfach durch die Haut, sind deshalb auf feuchte Umgebung angewiesen. Mit einigen lichtempfindlichen Zellen bemerken sie, wenn Helligkeit auf ihren Rücken trifft, sei es, weil sie durch Zufall am Tage an die Oberfläche gekrabbelt sind, ein Regenwurmzüchter die Zuchtkiste öffnet oder in der Nacht der Lichtschein einer Taschenlampe auf sie fällt. Um nicht zu einer Vogelmahlzeit oder zu einem Angelköder zu werden, verschwindet der Wurm blitzschnell in der Erde.
Das Nervensystem ist sehr minimalistisch, in der Nähe des Mundes gibt es so etwas wie ein Gehirn. Obwohl Regenwürmer taub sind – es könnte ihnen der schönstes AC/DC-Titel vorgespielt werden und man würde keinerlei Reaktion erkennen – sind sie sehr empfindlich bei Bodenerschütterungen. Sie haben Tastsinneszellen am gesamten Körper, orientieren sich damit im Erdreich, und ihr Geschmackssinn scheint gut ausgeprägt zu sein. Sie nehmen chemische Reize über die Haut war, reagieren beispielsweise auf Säuren sehr heftig.
Der Muskelschlauch ist in Segmente eingeteilt, bei ausgewachsenen Würmern können es bis zu 200 sein. Sie werden ein Leben lang im hinteren Bereich des Körpers neu gebildet. Jedes dieser Segmente besitzt vier Borstenpaare. Diese dienen der Fortbewegung auf der Erde und in ihren Wohnröhren.
Regenwürmer sind Zwitter, haben also gleichzeitig männliche und weibliche Geschlechtsorgane, was die Partnersuche sehr vereinfacht. Die Paarung selbst kann dann jedoch mehrere Stunden dauern. Das Ergebnis ist ein klebriger Schleimring, der der Aufnahme von Ei- und Samenzellen dient. Diese als Kokon bezeichneten Ringe werden abgestreift, erstarren sehr schnell und werden in der oberen Bodenzone abgelegt. Regenwürmer erreichen ein Lebensalter von bis zu acht Jahren.
In der Fachliteratur wird davon ausgegangen, dass es in Deutschland 46 Wurmarten gibt, die zur Familie der Regenwürmer gezählt werden, weltweit sind es 3.000. Von den 46 deutschen Arten werden etwa 25 als selten oder extrem selten eingestuft.
In Abhängigkeit von den Lebensumständen werden sie in drei große Gruppen eingeteilt, die:
• Streubewohner, die sich in der Streu- und Humusschicht aufhalten und sich nur bei Kälte, Hitze oder extremer Trockenheit in tiefere Erdschichten zurückziehen. Diese „epigäischen“ Wurmarten besitzen wegen des UV-Schutzes oftmals eine starke Pigmentierung.
• Mineralbodenbewohner, die in Tiefen von 30 bis 50 Zentimetern leben und dort einer Grabetätigkeit in einem meist horizontalen Röhrensystem nachgehen. Diese „endogäischen“ Regenwurmarten sind meist träge und blass.
• Tiefgräber, die zwischen den einzelnen Bodenschichten pendeln. Diese „anektischen“ Würmer sind meist sehr kräftig gebaut. Sie ernähren sich von Blättern und Streuresten, die sie in ihre vertikalen Gänge ziehen.
Dem Laien werden in erster Linie zwei in ihrer Lebensweise völlig unterschiedliche Arten bekannt sein. Zum einen ist das der Tauwurm, gelegentlich auch als Aalwurm bezeichnet (Lumbricus terrestris). Er wird 12 bis 30 Zentimeter lang und hat einen rötlich gefärbten Kopf und ein blasses Schwanzteil. Er lebt auf Wiesen, Gärten und Feldern, seine Gänge gehen fast immer senkrecht in die Erde und können mehrere Meter tief sein. Es ist die einzige einheimische Regenwurmart, die nicht nur nachts, sondern auch am Tage die Erdoberfläche zur Nahrungssuche aufsucht.
Die zweite, bekanntere Art ist der Kompost- oder auch Mistwurm (Eisenia foetida). Mit 4 bis 14 Zentimetern Länge ist er kleiner als der Tauwurm. Er ist rot mit gelblichen Ringen um seinen Körper. Sein Lebensraum sind Komposthaufen, deren überreich mit organischem Material angereicherte Erde braucht er zum Überleben. Mistwürmer fressen pro Tag etwa die Hälfte ihres Körpergewichtes an Nahrung, sind jedoch sehr schlechte Futterverwerter und scheiden einen Großteil der aufgenommenen Nährstoffe wieder aus. Da dies an einer anderen Stelle als die Nahrungsaufnahme erfolgt, sorgen Regenwürmer so für eine gute Durchmischung und Düngung des Bodens.
Exoten, wie der größte deutsche Vertreter, der endemisch in einem kleinen Gebiet wühlende badische Riesenregenwurm (im ausgestreckten Zustand angeblich bis 60 Zentimeter lang) sind in Brandenburg nicht anzutreffen.
Die in manchen Biologiebüchern als größte Regenwürmer der Welt bezeichneten australischen Riesenregenwürmer mit bis zu drei Metern Länge gehören zu einer anderen Tierfamilie in der Ordnung der „Regenwürmer im weiteren Sinne“.
Erdwürmer sind nicht unbedingt sichtbar, jedoch relativ häufig. 100 Tiere pro Quadratmeter sind nicht selten, Wiesenflächen können ein Mehrfaches davon enthalten. Im Hektar Ackerland leben etwa 600 Kilogramm Regenwürmer, eine beeindruckende Zahl. Sie stellen jedoch nur 12 bis 15 Prozent aller Bodenlebewesen dar. Idealer Regenwurmboden ist dauerfeucht, nicht nass, sehr reich an zerfallender organischer Substanz. Trockene und extrem verdichtete Böden stellen keinen Lebensraum für sie dar.
Auch den Brandenburgern sind die positiven Eigenschaften der Tätigkeit der Erdwürmer bekannt. Hier gibt es jedoch eine Reihe von Besonderheiten zu beachten. Die letzte Eiszeit hat die sicherlich ursprünglich vorhandene Regenwurmpopulation nach Südwesten verdrängt, nicht alle 46 deutschen Regenwurmarten haben es nach Brandenburg geschafft. Wir haben also Regenwurm-Artenarmut.
Bei unseren leichten Böden spielen sie eine positive Rolle bei der Nährstoffanreicherung, sie produzieren nährstoffreiche Hinterlassenschaften. In den vertikalen Röhren kann Regenwasser in größere Tiefen eindringen. Bei Starkregenfällen können von den gut mit Regenwürmern bewohnten Wiesenflächen durch die langen Gänge (pro Quadratmeter Oberfläche 400 und mehr Meter) bis zu 150 Liter Regenwasser pro Stunde versickern und bis zum Grundwasser abgeführt werden.
Durch ihre an der Oberfläche abgelagerten Kotballen erhöhen die Würmer die Wasserkapazität der Böden, indem sie die Oberflächen in der Ackerkrume vermehren. Bei etwas schwereren Böden bilden Regenwurmgänge durchaus Wege, die Pflanzenwurzeln nutzen. Den Pflanzen fällt es so leichter, tiefere, nährstoff- und wasserreiche Bodenschichten zu erreichen.
Vieles spricht also für den Schutz der Regenwürmer, dazu zählen die Verringerung der Bodenversiegelung und das Schaffen von Nahrungsangeboten. Regenwürmer lieben einen unaufgeräumten Garten mit Blättern und anderem organischen Material. Auch das Anlegen einer kleinen Regenwurmzucht in einer ruhigen Ecke des Gartens kann nützlich sein.
Regenwürmer sind wichtige Lebewesen im Komposthaufen, Helfer bei der Kompostierung. Ihre Aufgabe besteht weniger darin, das vorhandene organische Material zu zerstören, dies übernehmen auch Asseln und Tausendfüßler. Sie durchmischen das im Kompost vorhandene Material, schaffen Gänge für Luft und Wasser. Es gibt durchaus Phasen im Leben eines Komposthaufens, die völlig regenwurmfrei ablaufen können.
Entsprechende Zugangswege vorausgesetzt, finden sich die Helfer, meist Kompostwürmer, relativ schnell ein. Zur Beschleunigung des Besiedelns kann es sinnvoll sein, Regenwürmer zu kaufen. Ob dies jedoch kanadische Tauwürmer, das Dutzend für mehr als 12 Euro aus dem Anglerbedarf, sein müssen, sei jedem selbst überlassen. Tauwürmer sind nicht unbedingt ortstreu.
Wenn das Regenwurmleben im Haufen begonnen hat, kann durch entsprechende Futter- und Wassergaben ihr Verhalten gesteuert werden. Kompostwürmer mögen Grasschnitt, Laub, Kaffeesatz. Auch Wellpappe oder gelegentlich eine Eierverpackung werden von Ihnen nicht verschmäht. Schalen von Südfrüchten mögen sie überhaupt nicht. Unter Umständen bietet sich auch eine Zweiteilung des Kompostplatzes an, die Würmer wandern dann zum Nahrungsangebot.
Nicht überall auf der Welt stellen Regenwürmer eine Bereicherung für die Vegetation dar. Beispiel Nordamerika: Dort sind in der letzten Eiszeit die Regenwürmer weit in den Süden abgedrängt worden. Bis zum Erscheinen der Europäer haben sie es bei einer Wandergeschwindigkeit von 5 bis 10 Metern pro Jahr nicht geschafft, die großen Wälder Kanadas und der Ostküste der USA zu erreichen. Da die Substrat zerstörende Tätigkeit der Regenwürmer fehlte, entwickelte sich eine Lebensgemeinschaft aus Bakterien, Pilzen und kleinen Insekten, die in einem langsamen Prozess das organische Material am Boden zersetzen und langsam, nach Jahren, den Pflanzen wieder zur Verfügung stellen. Gleichzeitig haben sich die Pflanzen an die schützende, dicke Laubschicht angepasst und überleben so die extrem kalten Winter.
Durch Pferdemist, Boden als Ballast für die Segelschiffe und Erde in Töpfen eingeführter Pflanzen wurden Wurmarten mittransportiert. Im 20. Jahrhundert taten Angler, die mit Vorliebe importierte Regenwürmer als Köder nutzten und die überzähligen Würmer einfach in die Natur entließen, ein Übriges. Zusätzlich erfolgt ein Weitertransport der Kokons durch Schuhe, Autoreifen und andere Gegenstände, an denen Erde haftet.
Die eingeschleppten Regenwürmer vermehren sich stark, zersetzen das organische Material in einem wesentlich höheren Tempo als bisher, graben den Waldboden durch ihre Wohnröhren in einer dort ungekannten Art um, schaffen Abflüsse in die Tiefe. Dadurch stehen einerseits innerhalb kurzer Zeit viele Nährstoffe zur Verfügung, diese werden durch Regenfälle, die in die Wohnröhren der Regenwürmer einsickern, teilweise in tiefere Erdschichten verbracht. Gleichzeitig wird Kohlendioxid schneller freigesetzt. Nicht alle Pflanzen der nordamerikanischen Wälder kommen mit diesen Änderungen klar, es findet derzeit an manchen Stellen ein dramatischer Umbau statt.
Nicht immer ist der Wurm also ein Gewinn für die Natur, wie zu Anfang behauptet. Doch für uns in Brandenburg ist der rege Wurm ein Segen: „Der liebe Gott weiß, wie man fruchtbare Erde macht, und er hat sein Geheimnis den Regenwürmern anvertraut“, sagt ein französisches Sprichwort.
Text: Carsten Hahn