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21. Oktober 2025

Trauerbegleitung für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung

Text: Tina Hoffmann

Menschen äußern und verarbeiten Trauer und Verluste individuell sehr unterschiedlich. Um Menschen mit geistiger Beeinträchtigung in ihrem Trauerprozess zu unterstützen, haben Simone Rackwitz und Ines Schönefeld ein eigenes Angebot entwickelt, denn diesem Thema wurde aus unterschiedlichen Gründen bisher wenig Aufmerksamkeit gewidmet und nur sehr allmählich wachsen Angebote, die sich speziell an Trauernde mit Beeinträchtigung richten. In Bad Belzig haben sich die beiden der herausfordernden Aufgabe gestellt und im betreuten Wohnen von Haus Belizi ehrenamtlich eine Trauergruppe ins Leben gerufen.

Simone Rackwitz arbeitete zuvor bereits als Trauerbegleiterin, als die Anfrage für die Gründung der Trauergruppe kam. Da sie einen familiären Bezug zur Thematik hat, wusste sie um die Wichtigkeit dieses Themas. Zusammen mit Ines Schönefeld, die aus der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit geistiger Beeinträchtigung kommt, bilden die beiden ein kompetentes und engagiertes Team. Zunächst gingen die beiden Ehrenamtlichen nach dem Prinzip „Learning by Doing“ vor, inzwischen leiten sie selbst Workshops und geben ihren reichen Erfahrungsschatz weiter.

Verlust bei Menschen mit geistiger Beein­trächtigung

Manchmal bedeutet der Tod von nahen Angehörigen, zum Beispiel der Eltern, für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung gleich einen vielfachen Verlust. Nicht nur, dass eine nahe Bezugsperson nicht mehr da ist, manchmal verlieren sie dadurch auch ihr Zuhause und müssen sich in einer Einrichtung in einer neuen Umgebung zurechtfinden, in der sie nicht nur auf Gewohntes, sondern vielleicht auch auf Freiheiten verzichten müssen, die sie im Elternhaus hatten. Sie müssen sich an neue Regeln, Tagesstrukturen und Alltagsrituale gewöhnen – der Trauer über den verstorbenen Angehörigen wird dabei zu oft wenig Raum eingeräumt. Häufig fehlen im Betreuungsalltag die Ansprechpartner:innen und auch der getaktete Alltag in Wohnstätten erschwert es, sich mit den Gefühlen auseinanderzusetzen. Um der Trauer wieder Raum zu geben, findet einmal im Monat für die Bewohner:innen von Haus Belizi im geschützten Rahmen eine Trauergruppe in der Wohnküche statt. Laut Simone Rackwitz steht die Gruppe „allen offen, bei denen es einen Trauer­fall gab, das kann auch länger her sein“.

Raum für Trauer

Sechs bis maximal zehn Teilnehmer:innen hat die Gruppe, in der Zeit und Geduld eine entscheidende Rolle spielen. „Ein Heim hat feste Rhythmen, die Bewohner sind es gewohnt zu funktionieren“, so Ines Schönefeld. „Es hat erst ein bisschen gedauert, bis sie begriffen, dass sie ihren Gefühlen Raum geben können.“ Oft können diese Gefühle selbst jedoch gar nicht benannt oder eingeordnet werden. Auch Abhängigkeiten stören den Trauerprozess. Nicht selbständig zum Friedhof gehen zu können oder nicht einmal an der Beerdigung teilgenommen zu haben, wirkt sich auf das Empfinden aus. Laut Ines Schönefeld „gehen sie dann einen Schritt zurück und denken, das Trauern stehe ihnen nicht zu“. Dort setzen die Rituale der Trauergruppe an. Hier dürfen sie sagen und zeigen, dass sie traurig sind. Bis sie sich wirklich öffnen, kann allerdings bis zu einem Jahr vergehen.

Rituale geben Sicherheit

Zu Beginn einer Trauerstunde wird das Ankommen der Teilnehmenden eingeplant, denn erst einmal sprudeln die Tageserlebnisse aus ihnen heraus. Danach wird eine ruhige, angenehme Atmosphäre des Raumes sichergestellt, die auch geschlossene Türen beinhaltet. Um den Grad der Ablenkung, der laut Ines Schönefeld enorm sein kann, gering zu halten, wird als optisches Zentrum ein Spiegel in die Mitte des Tisches gelegt. Dann werden elektrische Kerzen für die Verstorbenen entzündet und aus einer Kiste mit verschiedenfarbigen Stoffblumen eine zu ihnen passende ausgewählt und auf den Spiegel gestellt. „Die Bewohner sind absolut zielsicher bei der Auswahl der Farben, auch wenn sie es verbal nicht verknüpfen können“, erklärt Ines Schönefeld und Simone Rackwitz ergänzt: „Wir können meist interpretieren, was sie meinen.“ Auch bei den Gefühlsketten, die danach mit Perlen gestaltet werden. Farben, Formen und Größen der Perlen wählen die Teilnehmenden ganz intuitiv nach ihrem Zustand aus, dabei braucht es nicht zwingend Worte. „Bei einer Bewohnerin ist die Last des Verlustes so schwer, dass sie immer die schwerste Perle wählt“, erzählt Ines Schönefeld.

Ein weiteres Element der Gruppenarbeit ist eine Kiste mit Alltagsgegenständen in Miniaturformat – die beiden Trauerbegleiterinnen bezeichnen sich selbst als „Jägerinnen kleiner Gegenstände“, die sie dann auf dem Tisch verteilen. Diese helfen über eine unbewusste Ebene, gute Erinnerungen an die eigene Kindheit oder die Verstorbenen anzuheben. Während bei anderen Übungen die Muster der Trauerbegleiterinnen übernommen werden, suchen hier alle eigene Gegenstände aus. Dabei können sie sich kurzzeitig aus ihrem Alltagstrott lösen und spüren, dass ihre Trauer und ihre Erinnerungen von Bedeutung sind.

Ein weiteres wichtiges Element, mit dem Simone Rackwitz und Ines Schönefeld in der Gruppe arbeiten, sind die Erinnerungskisten, die von den Teilnehmer:innen zu jedem Termin mitgebracht werden. In diese kommen persönliche Erinnerungsstücke, Namensketten und ein Edelstein, der passend zur verstorbenen Person ausgesucht wird. Auch Fotos können hineingelegt werden, sofern diese vorhanden sind. Keine Selbstverständlichkeit. „Es hat uns lange beschäftigt, dass viele keine Fotos ihrer Verwandten haben“, so Simone Rackwitz. Die Gestaltung der Boxen übernehmen die Bewohner:innen selbst. Dafür bringen die Leiterinnen Bastelmaterialien wie Aufkleber, Motivpapier, Motivlochstanzer, Schmuckbänder, Glitzersteine und anderes mit. Das Basteln war „erstmal ein wildes Geklebe, jetzt fangen viele an, gezielte Vorstellungen zu haben“, erzählt Ines Schönefeld. Für die Bedeutung der Erinnerungskisten musste in der Wohnstätte allerdings zunächst ein Bewusstsein geschaffen werden – bei den Betreuer:innen und anderen Bewohner:innen, damit diese nicht achtlos beiseite geschoben oder gar umfunktioniert werden.

Sichtbare Fortschritte im Trauerprozess

Wenn sich Trauernde allmählich emotional öffnen, zeigt sich, dass das Konzept Erfolg hat. Doch es gibt laut Simone Rackwitz auch die „kleinen, minimalen Dinge, an denen wir Fortschritte bemerken“. Auch bei den Gruppentreffen gibt es Veränderungen. Inzwischen gehen die Teilnehmer:innen am Ende nicht mehr einfach, sondern fragen Simone Rackwitz und Ines Schönefeld, wann sie wiederkommen. Eine Veränderung, über die sich die beiden besonders freuen. Auch vergisst inzwischen niemand mehr, seine Erinnerungskiste in die Trauergruppe mitzubringen.

Dem ehrenamtlichen Team macht seine Tätigkeit sichtlich Spaß. „Es gibt nie die Frage, ob jemand richtig ist. Das macht die Arbeit so angenehm, weil es immer unverstellt, immer echt ist“, so Ines Schönefeld. Noch gibt es vergleichbare Gruppen nur in wenigen Einrichtungen, auch wenn eigentlich ein Trauerkonzept vorhanden sein sollte.

Die Weitergabe ihrer Erfahrungen

Um das Konzept weiterzugeben, haben sie Workshops initiiert, so dass entsprechende Angebote in möglichst vielen Wohngruppen und Einrichtungen eingerichtet werden können. Laut Simone Rackwitz „steht und fällt alles mit den Mitarbeitern der Einrichtungen“. Auch eine Bereitschaft des Betreuerteams, sich mit den Leiter:innen der Trauergruppen rückzukoppeln und der Gruppe einen wichtigen Stellenwert einzuräumen, ist wichtig und trägt zum Erfolg bei.

Bleibt zu hoffen, dass die Workshops von Simone Rackwitz und Ines Schönefeld viele Einrichtungen zur Nachahmung anregen und zukünftig noch mehr Trauernde mit geistiger Beeinträchtigung die Möglichkeit erhalten, in einem geschützten Umfeld ihre Trauer zu verarbeiten.

Bei Interesse an einem Workshop können Sie hier Kontakt aufnehmen: Ambulanter Hospiz- und Palliativdienst Potsdam-Mittelmark, Koordinatorin Catrin Severin, catrin.severin@diakonissenhaus.de


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