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Fotos: AdobeStock
03. Dezember 2021

Kinder in der Klemme zwischen Fürsorge und Bevormundung

Im Treffpunkt ist heute das Thema „Meine erwachsenen Kinder und ich“ Grund hitziger Debatten. Die alt gewordenen Mütter und Väter, alle schon mit Pflegegrad 1 bis 3, erzählen sich gegenseitig, wie ihre Kinder sie bevormunden, ihnen nichts mehr zutrauen, sie teilweise mit Fürsorge überschütten und nicht mehr ernst nehmen. Das Stimmungsbild ist einhellig: es nervt. „Meine Tochter schneidet mir doch tatsächlich den Kuchen in kleine Stückchen, als ob ich die Kuchengabel nicht mehr halten kann.“ „Meine Tochter antwortete immer für mich, wenn mich der Bäcker oder der Arzt oder der Hausmeister etwas fragt.“ „Mein Sohn sagt ständig: ,Sitz gerade.´“ „Meine Schwiegertochter kommt einmal die Woche zu Besuch. Kaum ist sie da, fängt sie an zu putzen. Letztens ist mir der Kragen geplatzt, da habe ich sie angemeckert, sie soll nicht immer so tun, als wäre ich ein Dreckschwein. Habe mein Haus immer sauber gehalten, da hat sich noch keiner beschwert. Aber ihr ist das nicht gut genug, muss es ja besser machen.“ „Mein Sohn fragt mich doch tatsächlich, warum ich schon wieder 50 Euro für den Friseur ausgegeben habe, es wäre doch Quatsch. Leider habe ich ihm die Vollmacht über mein Konto gegeben, und er kontrolliert doch tatsächlich meine Kontoauszüge. Angeblich will er mich schützen, falls mal jemand von meinem Konto etwas unbefugt abbucht. So’n Quatsch, es hat 70 Jahre keiner von meinem Konto etwas gestohlen. Und auf den Enkeltrick falle ich bestimmt nicht rein!“ „Was mich die alle aufregen. Egal wer kommt, alle reden ständig auf mich ein, ich müsse mehr trinken. Dabei hat mir der Arzt Entwässerungstabletten verschrieben, da kann ich doch nicht so viel trinken.“ Hier nicken alle zustimmend aus der Runde, das Thema kennen sie auch.

Könnten die Kinder das hören, würden sie die Situationen vollkommen anders darstellen, denn hier spielen die ewigen Widersprüche zwischen Selbstbild und Fremdbild hinein.

Tochter Karola hat schon oft beobachtet, dass die Mutter das Stück Kuchen auf dem Teller nicht mehr richtig sieht, schon öfter die Hälfte unter dem Tisch landete, da die Mutter das es aufgrund der beginnenden Makuladegeneration nicht mehr richtig sieht. Tochter Gudrun übernimmt das Antworten oft für ihre Mutter, da diese inzwischen eine schwer zu verstehende Aussprache hat und ihr Gegenüber immer wieder nachfragen muss, bis sie am Ende doch die Tochter fragen. Schwiegertochter Petra sieht und riecht es, die Wohnung ist nicht mehr so sauber, wie sie früher war. Speisereste setzen sich in der Auslegware fest, Marmeladenspuren durchziehen den Weg von der Küche zum Essplatz. Dabei war die Schwiegermutter ein wahrer Putzteufel und hätte auch die Wohnung der jungen Familie kontrolliert und kritisiert, erzählt die Schwiegertochter manchmal. Sie meint es wirklich nur gut, wenn sie jetzt jede Woche etwas wischt und putzt, aber sie erhält statt eines Dankeschön nur Vorwürfe. Der Sohn bemerkt anhand der Kontoauszüge, dass seine Mutter jede Woche zum Friseur geht, und zwar immer zu einem anderen. Wenn er sie darauf anspricht, leugnet sie dies und behauptet, sie würde seit 30 Jahren jeden Monat und nur einmal zum gleichen Friseur gehen. Seine Befürchtung, dass die Mutter eine leichte Demenz entwickelt, ist offenbar nicht ganz unbegründet. Er gönnt ihr die Friseurbesuche, sorgt sich aber, dass die Mutter nach und nach die Kontrolle über ihr Geld verliert. Auch seine Befürchtungen, der Enkeltrick würde bei ihr funktionieren, ist berechtigt. Das Thema Trinken ist wohl in allen Familien ein ungelöstes Problem. Die Familie merkt, dass es dem Vater/der Mutter deutlich besser geht, wenn sie regelmäßig trinken, aber die Einsicht fehlt auf der anderen Seite.

Die heutige Zeit ist geprägt von einer Kinder-Generation, die sich mehrheitlich bereitwillig, ganz selbstverständlich, fast aufopfernd um ihre alt gewordenen Eltern kümmert. Das Klischee, alle Alten werden in die Heime abgeschoben, stimmt in keiner Weise. Über 75 Prozent der pflegebedürftigen Menschen werden zu Hause versorgt! Meist von den Ehepartnern und von den Töchtern, inzwischen zunehmend auch von den Söhnen. Schwiegertöchter sind in den letzten 20 Jahren auf Platz vier der Statistik gerutscht. Die Kinder scheitern in ihrer Hilfsbereitschaft sehr oft an dem Widerstand der Eltern. Die Beispiele im Text sind nur ein Blick durchs Schlüsselloch in einen Alltag voller Konflikte. Der Volksmund nennt den Widerstand der Eltern leichtfertig Altersstarrsinn, aber das kommt schon einer Beleidigung gleich und übersieht das Wesentliche. Es geht um den Widerspruch zwischen Selbstbild und Fremdbild. Ein Widerspruch, der sich übrigens zeitlebens durch eine jede Biographie zieht und seine Spuren hinterlässt. Nur kehrt sich im Alter etwas um. Waren es in der Pubertät die Kinder, die sich von den Eltern unterschätzt, kontrolliert und bevormundet fühlten, sind es nun die Eltern, die dieses von ihren Kindern erfahren.

Es gibt keine allgemeingültigen Ratschläge, wie sich dieser Widerspruch lösen lässt. Zu individuelI sind Charaktere und Familienbiographien. Am Ende bleibt nur, dass man sich gegenseitig mitteilt, was einen stört, verletzt, vielleicht auch herabwürdigt. Und dass man offen sagt, wozu man bereit ist und wo die Grenzen sind. Aber das gilt für Konflikte in allen Lebensaltern. Vielleicht hilft der Hinweis, dass man Konflikte ansprechen muss, wenn gerade gute Stimmung ist, wenn man entspannt ist. Denn mitten im Konflikt werden oft Worte und Vorwürfe gesagt, die einem später leidtun. Und wenn es gar nicht mehr geht, kann man sich bei Fachleuten Unterstützung holen. Es gibt in Potsdam und Umgebung gute Beratungsstellen.

Der wichtigste Rat ist, mit den Eltern frühzeitig über Themen wie zum Beispiel die Unterstützung und Pflege im Alter zu sprechen. Kinder und Eltern haben noch emotionalen Abstand, wenn die Thematik in „weiter Ferne“ liegt und können sich sachlich darüber austauschen.

Text: Gisela Gehrmann

Beratungsstellen & Informationen

Datenbank für die Suche nach Angeboten zur Pflegeberatung in Ihrer Nähe:
www.zqp.de/beratung-pflege

Pflegestützpunkte in Brandenburg
pflegestuetzpunkte-brandenburg.de

Krankenkassen
Pflegeberatung für Pflegebedürftige und deren Angehörige

Caritas Online-Beratung
www.caritas.de/hilfeundberatung/onlineberatung/leben-im-alter

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
www.wege-zur-pflege.de
Pflegetelefon für pflegende Angehörige: 030.20 17 91 31, Mo-Do 9-18 Uhr

Bundesministerium für Gesundheit
www.bundesgesundheitsministerium.de/service/publikationen

Verbraucherzentrale Brandenburg
www.verbraucherzentrale-brandenburg.de/wissen/gesundheit-pflege

Broschüre „Entlastung für die Seele – Ein Ratgeber für pflegende Angehörige“
www.bagso.de/publikationen

Psychologische Online-Beratung für pflegende Angehörige
www.pflegen-und-leben.de

Selbsthilfegruppen
www.sekiz.de, www.nakos.de

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