Mit dem Laubfall im Herbst werden sie in Potsdam sichtbar, die Misteln. Diese grünen Kugeln wachsen in Bäumen, vor allem in Laubbäumen. Eigentlich sind Misteln schön und interessant. Ihnen werden viele positive Eigenschaften zugeschrieben. Sie leben jedoch als Schmarotzer der Bäume, in denen sie wachsen, ernähren sich von ihnen.
Die zu sehende grüne Erscheinung stellt eine selbständige Pflanze dar, mit eigenem Stoffwechsel, eigener Photosynthese, eigenem Wurzelsystem, eigenen Blüten und eigenen Samen. Sie ist eine lebende Pflanze in beziehungsweise auf einer anderen Pflanze. Dabei ernährt sie sich nicht von den organischen Produkten der Wirtspflanze, sondern entzieht dieser mit einem Wurzelorgan Wasser und Nährsalze. Misteln sind nicht, wie die aus den Tropen bekannten Bromelien oder Baumorchideen, bloße Aufsitzpflanzen, die den Baum nutzen wollen, um näher am Sonnenlicht zu sein. Sie sind auf den funktionierenden Saftstrom des Wirtes angewiesen. Damit sind Misteln nicht harmlos, sie entziehen dem Baum wichtige Nährstoffe und schwächen ihn. Stirbt dieser, stirbt auch die Mistel. Misteln kann man deshalb auch nicht abschneiden und als Winterblume in die Vase stellen, die Blätter werden dort schnell schlapp.
Von den weltweit existierenden etwa 70 Mistelarten kommt bei uns in Potsdam insbesondere die Weißbeerige Mistel (Viscum album) in drei Rassen, als Laubholz-, Kiefern- und Tannenmistel, vor.
Es gibt männliche (eher selten) und weibliche Exemplare der Pflanze. Das Geschlecht der Pflanzen lässt sich schon vom Boden aus feststellen, die weiblichen sind im Blatt sattgrün, die männlichen eher gelblich. Leider sind befallene Bäume in Potsdam oft so voller Misteln, dass einzelne Exemplare nur schwer zu unterscheiden sind. Die einzelne Mistelpflanze kann, abhängig vom Wirtsbaum, bis zu 70 Jahre alt werden und als kugeliger Busch einen Durchmesser von mehr als einem Meter erreichen.
Die Laubholzmistel ist nicht auf eine Baumart spezialisiert, jedoch scheint sie wählerisch zu sein. Sie bevorzugt bestimmte Laubholzarten, wie Pappeln (zum Beispiel an der Nutheschnellstraße), Linden (in der Hegelallee), Robinien und Apfelbäume. Andere Baumarten, vor allem die Rotbuche, aber auch die Walnuss, gelten als „mistelfest“, sie werden nicht befallen. Im Raum Potsdam kam es in den 1960er Jahren zu einem verstärkten Anpflanzen von verschiedenen Pappelarten für die Papierindustrie der DDR. Wegen des raschen Wachstums vor allem der sogenannten Hybrid-Pappel ist die Stadt Potsdam von befallenen Bäumen gezeichnet.
Für das Entdecken von Kiefern- oder Tannenmisteln muss man schon sehr genau beobachten, bei den grünen Nadeln der Bäume fallen die grünen Büsche auch im Winter nicht auf den ersten Blick auf.
Die Entwicklung einer neuen Mistelpflanze beginnt mit einer unscheinbaren Blüte im Februar und nach neun Monaten, um die Adventszeit, reifen die Beeren und werden von verschiedenen Singvogelarten gerne gefressen. Ein einheimischer Vogel, die größte mitteleuropäische Drosselart, die Misteldrossel, ist sogar danach benannt.
Diese Vögel scheiden die Kerne unverdaut wieder aus. Trifft nun eines dieser Samenkörner auf einen Baum, treibt es im nächsten Frühjahr aus und die Entwicklung der Pflanze beginnt. Sie bildet Wurzeln, die im Baum oder Strauch zwischen Rinde und Holzanteil wachsen. Zuerst sind nur zwei bis drei Blätter zu erkennen. Die Misteln wachsen in diesem Stadium relativ schnell, wenn man sie vom Boden aus erkennt, ist die Wurzel im Baum meist schon mehr als 30 Zentimeter lang. Ältere Pflanzen erreichen im Extremfall Wurzellängen von bis zu 150 Zentimetern.
Das einmalige Abschneiden der sichtbaren Sprossteile ist keine Lösung, die Pflanze treibt wieder aus. Die erfolgreiche Entfernung einer Mistel aus einem Baum stellt immer einen mehrjährigen Prozess dar, in dem man die Pflanze „aushungert“, regelmäßig immer wieder austreibende Zweige entfernt oder stark eingreift, wenn man alle mit Wurzeln infiltrierten Äste abschneidet. In Kronenbereichen großer Bäume ist das schwierig.
Entgegen vielfältiger Annahmen steht die Mistel nicht unter Naturschutz, sie kann auf eigenen Flächen ganzjährig beseitigt werden. Lediglich der Handel mit Misteln bedarf der Genehmigung.
Die Raupen eines im Obstbau gefürchteten, eigentlich wunderschönen Nachtfalters, des Blausiebs, leben mehrere Jahre in den Stängeln auch der Mistel, vor allem jedoch in Apfelbäumen. Dabei legt das Weibchen im Juli und August nach der Paarung mittels eines Legestachels die Eier einzeln an die Zweige. Die geschlüpfte Raupe frisst sich in den Zweig und höhlt diesen im Lauf der fast zweijährigen Entwicklung auf einer Länge von bis zu 30 Zentimetern aus. Sie lebt vom Holz. Nach Verpuppung schlüpft dann im zweiten oder dritten Jahr der Schmetterling und der Mensch wundert sich später, warum einzelne Zweige der Mistel oder auch des Apfelbaumes plötzlich abbrechen. Außer der Rinde ist nix mehr da, der Ast ist hohl. Diese Folgen durfte ich schon mehrfach beobachten, der Schmetterling ist nicht selten.
Bereits in der Mythologie des Altertums war die Mis-tel eine wichtige Pflanze, sie galt bei den Griechen, Kelten und Germanen als Zeichen der Götter, weil sie zwischen Himmel und Erde wächst. Die Mistel stand als Zeichen für den Sieg des Lebens über den Tod.
Die germanische Göttin Frigga verbot der Mistel nach einem erfolgreichen Mordanschlag des bösen Gottes Loki auf ihren Sohn, den Frühlingsgott Baldur, mit einem Pfeil aus einem Mistelzweig, jemals wieder den Boden zu berühren. Deshalb wachsen Misteln in der Höhe der Bäume.
Den Kelten war die Mistel, die auf einer Eiche (wahrscheinlich eine andere Art, die Eichenmistel, Loranthus europaeus) wuchs, extrem heilig. Sie näherten sich ihr nur unter Verbeugungen und Gebeten. Weiß gewandete Priester konnten am sechsten Tag vor Neumond mit einer goldenen Sichel die Mistel schneiden und daraus einen Trank bereiten, der alle unfruchtbaren Tiere fruchtbar machen sollte. Gleichzeitig galt dieser Trank als Heilmittel gegen alle Gifte.
In der englischen Kultur gibt es den Brauch, dass ein Mistelzweig in der Weihnachtszeit über die Tür gehängt wird und die junge Dame, die sich unter diesem Mistelzweig befindet, auf der Stelle geküsst werden darf. Paare, die sich zu Weihnachten unter diesem Mistelzweig küssen, bleiben für immer zusammen. Angeblich wirkt das nur sicher, wenn der betreffende Zweig ein Geschenk eines Dritten ist.
Manche alten Rosenkränze, die heute immer noch in Gebrauch sind, wurden aus dem Holz der Mistel gefertigt. Dieses Holz zeigt keine Jahresringe und es soll vor Krankheiten schützen.
Kulturgeschichtlich interessant ist die Verwendung der Samen der Pflanze, die in der Adventszeit reifen. Diese Beeren sind circa einen Zentimeter groß, weißlich, durchscheinend und enthalten ein Samenkorn. Das Fruchtfleisch ist extrem klebrig. Es wurde früher zu einer klebrigen Paste verkocht, die dann auf Baumzweige verstrichen wurde. Diese Leimruten nutzte man bis in das 20. Jahrhundert zum Fang von Singvögeln. Vögel, die sich auf diese Zweige setzten, konnten aus eigener Kraft nicht mehr wegfliegen. Der Vogelfänger von Mozart ist ja bekannt …
Die Anwendung der Mistel als Heilpflanze hat eine lange Tradition. Schon um 460 v. Chr. setzte man sie ein. Der Anthroposoph Rudolf Steiner beschrieb Anfang des 20. Jahrhunderts die Mistel als Pflanze für die Krebsbehandlung. Dabei zog er Parallelen zwischen dem Schmarotzertum der Mistel und der Krebsgeschwüre. Gleiches müsse mit Gleichem behandelt werden. Die Mistel sollte klassische chirurgische Eingriffe bei Geschwulstbildungen ersetzen. Dabei wurden von ihm die unterschiedlichen Inhaltsstoffe der im Sommer geernteten Blätter und der im Winter zu erntenden Früchte in einem aufwendigen Verfahren gemischt. Dieses Verfahren ist bis heute nicht unumstritten, führende Krebsgesellschaften auf der Welt lehnen diese Behandlung inzwischen ab.
Die Alternativmedizin nutzt heute die Mistel, vor allem die getrockneten Blätter, wegen der Vielzahl der Inhaltsstoffe. Der Mistel werden positive Wirkungen auf den Blutdruck nachgesagt, sie normalisiert sowohl den zu hohen als auch den zu niedrigen. Dabei wird empfohlen, einen Tee, über Nacht kalt angesetzt und abgeseiht, schluckweise zu trinken. Die tägliche Dosis liegt bei drei Tassen mit sechs Teelöffeln Mistelblätter.
Mistel soll bei manchen Krebserkrankungen tumorhemmend wirken, weil die Inhaltsstoffe die Abwehrkräfte des Körpers unterstützen. Mistelpräparate sollen immunverändernde Eigenschaften besitzen, mit denen die Nebenwirkungen einer Strahlen- oder Chemotherapie erträglicher werden können. Hier gilt die Mistel nicht als Ersatz für eine medizinische Behandlung, die Einnahme der Mistel soll unterstützen.
Insgesamt ist die Mistel heute eine der am besten untersuchten Heilpflanzen, ihre Inhaltsstoffe sind bekannt. Deren Konzentration ist davon abhängig, auf welchem Wirtsbaum sie gewachsen ist, in welchem Boden dieser Baum wächst und zu welcher Jahreszeit die Mistel geerntet wurde.
Die aufgeführten Anwendungsmöglichkeiten stellen keine Empfehlung dar!
Text: Carsten Hahn