Wieso uns unser Gehirn überall Gesichter sehen lässt
Im Frühjahr in Dänemark lernte ich Edvard kennen beziehungsweise besser: ich fand ihn am Strand. Sein Ausdruck passte gut zu meinem allgemeinen Befinden – der Schrecken über den eben begonnenen Krieg, und das nach zwei Jahren erschöpfendem Pandemie-Geschehen, und die daraus resultierenden Folgen wie Preisanstieg bei Papier, Stromkosten, Benzin etc., die einem die berufliche Existenz auch nicht gerade erleichtern. Und Edvard? Er stand da am Strand und machte sich nur Sorgen darüber, dass die nächste Welle ihn erwischen könnte, um ihn für immer unter Sand zu begraben oder mit der Zeit bis zur Unkenntlichkeit zu schleifen. Naja, vielleicht ist das ja für einen Stein die erschreckendste Vorstellung … Ich nahm Edvard also mit, um ihm die weite Welt zu zeigen – sprich Potsdam!
Ups, was passiert da? Ja, die Anordnung der weißen Stellen auf dem schwarzen Flintstein erinnert an ein Gesicht – mich erinnert es an Edvard Munchs Motiv „Der Schrei“. Wir Menschen neigen dazu, in Dingen, Flecken, Maserungen und anderem mitunter Gesichter zu „erkennen“. Warum eigentlich?
Diese spannende und oftmals kuriose Beobachtung hat uns in der Redaktion schon seit Längerem fasziniert. Denn die meisten von uns haben es schon erlebt – ein lächelndes Haus, den grimmigen Blick eines entgegenkommenden Autos oder der Toast, der einem gute Laune macht, weil er einen vom Frühstücksteller aus angrinst. Plötzlich sieht man irgendwo ein Gesicht, wo eigentlich keins ist. Einem Stein dann noch einen Namen zu geben, das ist ein anderes Thema … | Nicole Luft
Und tatsächlich befasst sich die Forschung schon seit vielen Jahren damit. Ein kanadisch-chinesisches Forscherteam um den Neurowissenschaftler Dr. Kang Lee gewann 2014 sogar den Ig-Nobelpreis, der seit 1991 für kuriose und gleichzeitig seriöse Forschung vergeben wird, die zum Lachen, aber auch zum Nachdenken anregen soll. Die Wissenschaflter*innen hatten untersucht, was bei Pareidolie im Gehirn passiert. Dazu legte man Studienteilnehmer*innen Bilder vor, die aus Punkten, Kommas und Strichen bestanden, und diese erkannten darin Gesichter. Und man fand heraus, dass eine Gehirnregion dabei aktiviert war, die auch reagiert, wenn man reale Gesichter sieht, die „Fusiform Face Area“, eine Zone der Großhirnrinde. Diese Hirnregion ist auch für Erwartungen zuständig. Deshalb, so folgerte das Forscherteam, sehen wir auch einfach Gesichter, wenn wir diese erwarten.
Vereinfacht kann man sagen: eine Art „Autovervollständigung“ in unserem Gehirn ist dafür verantwortlich, dass wir zum Beispiel in Wolken bekannte Formen und Gegenstände erkennen. Jeden Tag prasseln eine Menge Eindrücke auf uns ein, mit denen unser Gehirn umgehen, die es also einordnen muss. Dabei setzt es auf bereits Bekanntes, auf Erfahrungen, die es schon gemacht hat, und komplettiert oder gleicht das Wahrgenommene vertrauten Mustern an.
[PAREIDOLIE] „Para“ steht im Griechischen für neben oder gegen und „Eidolon“ für Bild oder Form.
Dass wir ausgerechnet Gesichter zu erkennen meinen, lässt sich evolutionär begründen, dienen diese doch in erster Linie dazu, einen Menschen zu identifizieren. Für Babys und kleine Kinder kann das überlebenswichtig sein, denn sie sind auf andere Menschen angewiesen. Tatsächlich gab es vor einigen Jahren eine Untersuchung britischer Forscher*innen, bei der Schwangeren mit Licht gesichterähnliche Muster auf die Bauchdecke projeziert wurden. Die Babys drehten ihren Kopf, um dem Muster nachzuschauen. Dann projezierte man das Licht-Bild verkehrt herum – die Babys zeigten sich nicht interessiert. Laut der Studie ist diese Fähigkeit angeboren. Wir müssen nicht einmal echte Gesichter gesehen haben, damit der Pareidolie-Effekt eintritt!
Die Fähigkeit der Gesichtererkennung kann uns in gefährlichen Situationen wichtige Hilfe leisten. Und weil das so ist, nimmt das Gehirn auch Muster als Gesicht wahr, die nur grob Ähnlichkeit damit haben.
Auch bei einigen psychischen Erkrankungen werden Gesichter an Stellen gesehen, an denen keine sind, bei Schizophrenie und Psychosen zum Beispiel. Doch Pareidolien können im Unterschied dazu willentlich gesteuert werden und sie verschwinden auch dann nicht, wenn man das vermeintliche Gesicht/Objekt angestrengt beobachtet. Des Weiteren kann eine natürliche Pareidolie wie eine Wolke oder ein speziell geformter Berg meist von mehreren Personen gleichzeitig wahrgenommen werden, während Halluzinationen nur von einem einzelnen Menschen gesehen werden.
Schon Leonardo da Vinci sah im 15. Jahrhundert menschliche Antlitze im Mauerwerk. Beschädigte Wände würden ihn inspirieren, Landschaften und Figuren zu erkennen, meinte er, und riet seinen Mitmenschen, sich auch dafür zu öffnen.
Im 19. Jahrhundert beschäftigte sich der Arzt Justinus Kerner mit dem Effekt und begann, in zufälligen, durch die Nutzung von Tinte und Feder entstandenen Tintenklecksen Gestalten zu suchen. Es faszinierte ihn, gesichtsähnliche Strukturen zu finden. Manchmal verstärkte er den Effekt mit feinen Federstrichen. Die dann sichtbaren Wesen muteten oft ein wenig geister- und feenhaft an. Er veröffentlichte ein Buch mit dem Titel „Klecksographie“, seine Bilder sind im Schiller-Nationalmuseum in Marbach zu sehen. Nach wie vor fasziniert das Phänomen Pareidolie Kunstschaffende weltweit. Und das ist völlig verständlich. | Ariane Linde
Quellen:
University of Toronto, Beijing Jiaotong University, Xidian University, Institute of Automation Chinese Academy of Sciences, Journal Cortex, Mai 2014
The Human Fetus Preferentially Engages with Face-like Visual Stimuli, Vincent M. Reid et al, veröffentlicht auf „Current Biology“, Juni 2017
Hier die Einsendungen unser Leser*innen. Danke dafür! Toll, welche Gesichter hier in Potsdam und Umgebung zu entdecken sind.